Das dunkle Herz der Jugend
Kernstück zu „Adolescence“ (Netflix-Miniserie, 2025)

Es beginnt mit einem Verdacht.
Ein Kind. Eine Leiche. Ein Zuhause, das kein Zuhause mehr ist.
Und eine Kamera, die nicht blinzelt.
„Adolescence“ zwingt uns, hinzusehen, auch wenn wir es nicht wollen.
Weil wir merken: Das hier ist keine Fiktion. Das ist unsere Realität, die sich einen anderen Namen gegeben hat.
Was macht das mit uns, den Zuschauenden?
Beim Sehen ertappt man sich.
Beim Wegsehen. Beim Zweifeln. Beim Mitleiden.
Man sucht die Schuld, findet sie bei ihm, dann bei ihr, dann bei sich selbst.
Wer ist hier eigentlich Opfer?
Und ist ein Täter immer schon einer gewesen?
„Adolescence“ führt uns in einen Raum ohne Helden.
Man identifiziert sich mit dem Vater, der nur noch schreit, weil ihm niemand zugehört hat.
Mit der Mutter, die ihr Kind liebt und fürchtet zugleich.
Mit Jamie, der schweigt, weil er es so gelernt hat.
Mit der Lehrerin, die vielleicht etwas hätte ahnen können.
Mit der toten Katie, deren Geschichte nur in Rückblicken existiert –
weil man Tote nicht mehr fragen kann.
Die Serie macht aus Zuschauer:innen keine Richter:innen,
sondern Mitfühlende,
Mitverantwortliche.
Schule, Gesellschaft, Polizei – alle schauen weg.
Es ist ein leiser Vorwurf, der in jeder Folge mitschwingt:
Die Institutionen versagen.
Die Schule, die mehr verwaltet als erzieht.
Die Gesellschaft, die Jungen Stärke aufzwingt und Mädchen Rücksicht.
Die Polizei, die Wahrheit sucht und doch nur Beweise findet.
„Adolescence“ zeigt uns keine Bösewichte mit klaren Konturen, sondern Strukturen, die fehlerhaft sind.
Ein Schulsystem, das keine Zeit hat, zuzuhören.
Eine Gesellschaft, die Gewalt als Ausrutscher abtut.
Ein Polizeiapparat, der schnelle Antworten braucht, wo Zeit das Wichtigste wäre.
Und mittendrin: Kinder.
Verwundbar. Unverstanden.
Allein.

Wir haben zugesehen.
Still.
Wie eine Familie taumelt,
wie ein Vater mit den Fäusten redet,
weil er keine Sprache mehr hat.
Wie eine Mutter bricht,
nicht laut,
aber endgültig.
Wie ein Kind zum Verdächtigen wird
und niemand fragt:
Wer war er davor?
„Adolescence“ ist keine Serie.
Sie ist ein Spiegel,
der flackert.
Ein Flimmern aus Kameraeinstellungen ohne Schnitt,
wie das Leben –
ununterbrochen,
unbarmherzig,
nah.
So nah, dass es wehtut.
Es geht nicht nur um einen Mord.
Es geht um die stille Brutstätte,
in der Misogynie wächst.
Um die Kellerzimmer der Einsamkeit,
in denen sich Jungs verlieren,
weil keiner ihre Tränen sieht.
Es geht um das Netz,
das nicht auffängt,
sondern festzieht.
Die Kamera bleibt.
Bleibt, wenn es zu viel wird.
Wenn jemand weint,
der sonst nie weint.
Wenn eine Entschuldigung nicht mehr reicht.
Wenn die Sprache versagt.
Wenn Väter zu Tätern werden,
und Mütter stumm.
Wenn Kinder schweigen –
bis sie nicht mehr schweigen können.
Und um die Frage:
Was macht die Welt mit Jungen,
die nie gelernt haben, weich zu sein?
„Adolescence“ lässt uns nicht los,
weil es keine Antworten gibt.
Nur Blicke.
Ein Flimmern in den Augen.
Eine Wut,
die nicht brüllt,
sondern erstickt.
Und ein Gefühl,
das bleibt:
Trauer.
Und Verantwortung.

Titel: Adolescence
Format: Miniserie (4 Folgen à ca. 50 Min)
Erschienen: März 2025 auf Netflix
Regie: Philip Barantini
Drehbuch: Jack Thorne, Stephen Graham
Stilmittel: One-Shot-Technik (jede Folge in einer einzigen Kamerafahrt)
Inhalt:
Im Zentrum steht der 13-jährige Jamie Miller, der beschuldigt wird, seine Mitschülerin Katie ermordet zu haben. Die Serie begleitet seine Familie – vor allem Vater Eddie und Mutter Manda – durch den Strudel der Anschuldigungen. In vier intensiven Folgen zeigt „Adolescence“, wie soziale Medien, Männlichkeitsbilder und gesellschaftliches Schweigen dazu beitragen können, dass junge Menschen in radikale Denkweisen abrutschen.
Besonderheit:
Die Serie wurde in Großbritannien als „Pflichtprogramm für Eltern“ beschrieben. Sie führt Zuschauer:innen ungeschönt in familiäre Brüche, digitale Echokammern und die fragile Psyche von Jungen im Teenageralter.
📘 GLOSSAR: Begriffe, die man kennen sollte
INCEL (Abkürzung für „involuntary celibate“)
Bezeichnet Männer, die sich unfreiwillig im Zölibat sehen und dafür oft Frauen, die Gesellschaft oder „die Welt“ verantwortlich machen. Incel-Foren im Internet verbreiten teils extrem frauenfeindliche Ideologien, Gewaltfantasien und Tätermythen.
Manosphere
Ein Sammelbegriff für online Communities, in denen sich Männer über Männlichkeit, Frauen und gesellschaftliche Rollen austauschen – häufig misogyn und antifeministisch geprägt. Dazu gehören Incels, Pick-Up-Artists, MGTOW („Men Going Their Own Way“) und andere.
Toxic Masculinity (toxische Männlichkeit)
Ein Begriff für schädliche Männlichkeitsideale, die auf Stärke, Dominanz, Gefühllosigkeit und Abwertung von „Schwäche“ beruhen. Sie führen oft dazu, dass Männer Gewalt eher ausüben (und erleiden), weil sie keine gesunde Form der Emotionsverarbeitung lernen.
Radikalisierung online
Viele junge Menschen stoßen über soziale Netzwerke oder Algorithmen zufällig auf extremistische Inhalte – teils verpackt in scheinbar harmlosen Memes, Life-Coaching-Videos oder Männlichkeitsratgebern. Die Serie zeigt, wie schleichend dieser Prozess verlaufen kann.
One-Shot-Technik
Ein filmisches Stilmittel, bei dem eine Szene oder eine ganze Folge in einer durchgehenden Kamerabewegung gedreht wird – ohne sichtbare Schnitte. In Adolescence erzeugt diese Technik eine beklemmende Nähe und Unmittelbarkeit.
Hallo Fidi,
ich habe die Serie auch gesehen.
Und sie hat mich nicht mehr losgelassen.
Vielleicht, weil sie so eindringlich erzählt ist – mit einer Kamera, die schonungslos draufhält.
Und auch wenn sie eine fiktive Geschichte erzählt – sie fühlt sich erschreckend real an.
Weil sie so sein könnte.
Weil sie in ihrer Erzählweise so dicht an unserer Lebensrealität ist.
Und weil sie zeigt, was oft ungesagt bleibt – und was das mit Menschen macht.
Ich bin Mutter von drei Kindern.
Zwei Töchter – eine davon ungefähr in Katies Alter.
Und einen Sohn, ein paar Jahre jünger als Jamie.
Wie viele Familien erleben wir, dass Social Media längst Teil des Alltags unserer Kinder ist.
Dass wir sie nicht vor allem schützen können, dass unser Einflussbereich begrenzt ist.
Diese Serie zeigt auf eine tief bewegende Weise, wie wichtig es ist, in Kontakt zu bleiben.
Immer wieder.
Auch – oder gerade – wenn es schwerfällt.
Auch, wenn sich unsere Kinder innerlich zurückziehen.
Auch, wenn die Verbindung zur Peergroup plötzlich wichtiger wird als die zu uns Eltern.
Was mich besonders berührt hat:
Wie viel unausgesprochen bleibt.
Wie sehr Sprache fehlt – für das, was passiert ist, aber auch für das, was längst vorher da war: Angst. Wut. Verlorenheit.
Wir brauchen Räume, in denen wir Worte finden dürfen für das, was uns sprachlos macht.
Und wir brauchen Beziehungen, in denen diese Worte gehalten werden.
„Adolescence“ ist keine Serie, die man einfach aus Unterhaltungsgründen anschaut.
Sie wirkt nach.
Weil sie uns erinnert: an unsere Verantwortung.
An unsere Verletzlichkeit.
Und daran, wie schnell sich ein Leben verformen kann, wenn niemand genau hinsieht.
Danke für diesen Text.
Er hat mich berührt – wie die Serie selbst.
Und wie das Leben, wenn wir es nicht an uns vorbeiziehen lassen, sondern ihm wirklich begegnen.
Sehr herzlich
Pia
Da ist dir ein starkes Stück gelungen, Fedi. Die Geschichte geht unter die Haut. Dein Blogartikel und deine Art zu schreiben ebenso. Danke dir dafür!
Vielen Dank für deine Worte! Liebe Grüße, Fidi